Die Ballade "Der Erlkönig"

Es ist eines der berühmtesten Gedichte der großen deutschen Lyrikepoche und auch heute noch fester Bestandteil im Schulunterricht. Die Rede ist von "Der Erlkönig". Die Illustration des Künstlers Moritz von Schwind, die Goethes zeitlose Ballade darstellt, fängt in einem Gemälde das Wesen des Werks ein.

Entstehung
Der Vorlage für Goethes Werk stammt ursprünglich aus dem Dänischen und wurde von Johann Gottfried Herder erstmals ins Deutsche übersetzt. Der Begriff „Erlkönig“ entstand dabei angeblich aus der falschen Übersetzung des Wortes Eller als Erle, das er dann mit dem Begriff König kombinierte.
Goethe schuf sein Werk als einen Teil des Singspiels Die Fischerin, in dem die Schauspielerin die Ballade bei ihrer Arbeit singt. Die Inspiration bekam Goethe während eines Aufenthaltes in Jena durch eine Nachricht, nach der ein Bauer aus dem nahegelegenen Dorf Kunitz mit seinem kranken Kind zum Arzt an der Universität ritt.

Inhalt
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.

Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? –
Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? –
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. –

„Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir;
Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand.“ –

Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? –
Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. –

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn
Und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ –

Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? –
Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. –

„Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt.“ –
Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! –

Dem Vater grauset’s; er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.


In einer stürmischen Nacht reitet ein Vater, seinen kleinen Sohn im Arm, durch einen dunklen Wald. Das Kind glaubt in der Dunkelheit die Gestalt des Erlkönigs zu erkennen und ängstigt sich. Der Vater beruhigt seinen Sohn: was er sehe, sei nur „ein Nebelstreif“. Doch die gespenstische Gestalt lässt das Kind nicht mehr los. Mit verführerischen Worten bittet der Erlkönig den „feinen Knaben“, mit in sein Reich zu kommen und sich dort von seinen Töchtern verwöhnen zu lassen. Das Kind allerdings wird zunehmend unruhiger. Wieder bemüht sich der Vater, für dessen Halluzinationen eine natürliche Erklärung zu finden: Die Vorkommnisse seien nur das Rascheln der Blätter und der Widerschein der alten Weiden. Doch die Gestalt wird immer bedrohlicher, und der Sohn reagiert regelrecht panisch. Als der Erlkönig das sich sträubende Kind schließlich mit Gewalt an sich reißen will, verliert auch der Vater seine Fassung und versucht, so schnell er reiten kann, den heimatlichen Hof zu erreichen. Doch zu spät – das Kind in seinen Armen ist bereits tot.

Form
Das Gedicht besteht aus acht Strophen mit je vier Versen und ist der Epoche des Sturm und Drangs zuzuordnen. Der grundlegende Versfuß ist zwar der Jambus, jedoch tauchen in unregelmäßigen Abständen auch dreihebige Versfüße auf. Ein festes Metrum ist kein Merkmal einer Ballade, da diese Texte überwiegend auf die Singbarkeit hin verfasst werden.
Das Reimschema der einzelnen Strophen ist a a b b. Es handelt sich dabei um einen Paarreim. Ausgenommen davon sind die ersten beiden Verszeilen der fünften Strophe. diese sind Waisen, die keinem Paarreim angehören.
In der gesamten Ballade herrscht mit wenigen Ausnahmen die stumpfe, männliche Kadenz. Diese besitzt auch einen großen Einfluss auf den Leserhythmus.

Analyse
Goethes Werk enthält wie die meisten Balladen Leerstellen, die durch Interpretation vom Leser aufgefüllt werden müssen:
Es bleibt unklar, woher der Junge den Begriff „Erlkönig“ kennt und warum diese Figur trotz ihrer anfänglichen Freundlichkeit sofort Angst in ihm auslöst. Es wird auch nicht erklärt, warum am Schluss das Erzähltempus vom Präsens zum Präteritum wechselt. In einer weniger dramatisierten Erzählung müssten die Tempora genau umgekehrt benutzt werden: Das zunächst Beschriebene ist vergangen, während der Junge tot bleibt. In Herders "Erlkönigs Tochter" ist jedoch ein ähnlicher Tempus-Wechsel vorhanden.

Woran „das Kind“ (der Mensch oder die Kindlichkeit des Sohnes?) stirbt bzw. gestorben ist, wird nicht explizit mitgeteilt. Die meisten Interpretationen des Gedichts gehen jedoch von der Nicht-Existenz dessen aus, was der Knabe wahrnimmt. Sie sehen (wie der Vater) den Erlkönig als bloße Ausgeburt von Angst- und Fieberträumen und als Ausdruck der Krankheit des Knaben, die ihn am Schluss der Ballade tötet.
Eine zweite Gruppe von Interpreten kritisiert die aufklärerische Haltung des Vaters im Gedicht und derjenigen Interpreten, die dessen Sichtweise teilen: Dass von Erlenbrüchen rational nicht nachvollziehbare, naturmagische Energien, auch in Form von Schadenzauber, ausgingen, werde von vielen Menschen seit langer Zeit geglaubt. Daher sei der Hinweis auf Erlen auch kein Übersetzungsfehler (das dänische Wort ellerkonge bedeutet eigentlich ‚Elfenkönig‘, s.o.), sondern von Goethe durchaus beabsichtigt. Möglicherweise verfügten demnach „unbekannte Mächte über Leib und Leben eines wehrlosen Menschen“. Goethe, als „einer der Begründer der naturmagischen Ballade“, habe den Erlkönig aus dem Jenseits einen Menschen zu sich rufen lassen, der sich in sein Reich begeben habe. 

Da einige Verse, wie „Du liebes Kind, komm geh mit mir!“ oder „Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“, an Missbrauchsfälle von Kindern erinnern, neigen einige Interpreten zu der Auffassung, das Gedicht handele von einer Vergewaltigung. Wiederum anderen Interpreten zufolge verkörpert die Figur des Erlkönigs erste unbewusste pubertäre Ahnungen: Er repräsentiere die männliche Natur des Knaben. Diese locke den widerspenstigen Knaben zunächst mit mütterlichen, dann mit erotischen Phantasien in ihr Reich und gewinne schließlich gewaltsam die Oberhand. Durch den nächtlichen Ausflug ins dämonische Leben werde der Knabe seiner Unschuld beraubt und letztlich gezwungen, seine wohlbehütete Kindheit zu verlassen. Sein Tod symbolisiere das unaufhaltsame Ende seiner naiven Integrität und seinen zwangsläufigen Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Seine männliche Natur hole den fliehenden Knaben buchstäblich ein. Da helfe kein noch so schneller Galopp des Vaters, der seinen Sohn ins beschützende elterliche Heim zurückholen und so retten wolle. Die Beschwichtigungsversuche und der verzweifelte Kampf des Vaters müssten gegen die natürlichen Triebe des Kindes unterliegen. Der fortschreitenden Zeit und erwachenden Sexualität lasse sich nicht entkommen.

Der Erlkönig heute
Zur Erinnerung an die Ballade wurde im 19. Jahrhundert ein Erlkönig-Denkmal zwischen den heutigen Jenaer Stadtteilen Kunitz und Wenigenjena errichtet, das jährlich tausende Besucher aus der ganzen Welt bestaunen.
Des Weiteren gibt es zahlreiche Versionen der berühmten Ballade, die inhaltlich so verändert wurden, dass sie den Zeitgeist der jeweiligen Dekade widerspiegeln.