Vorwort Jubiläumsanthologie XX

 

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Seit 20 Jahren führt die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte einen der größten jährlichen Gedichtwettbewerbe Deutschlands durch und hat in diesem Zeitraum Preise im Wert von rund 200.000 Euro an mehr als 2.000 Preisträger vergeben. In den Anthologien der vergangenen 20 Jahre wurden rund 80.000 Gedichte veröffentlicht. Damit bilden die Publikationen und Veranstaltungen der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte ein entscheidendes Instrument zur Stärkung der deutschsprachigen Dichtung der vergangenen Jahrzehnte. Eine Bilanz auf die wir stolz sein dürfen. 

Lyrik ist heute wichtiger denn je. In der Dichtung verschmelzen unterschiedliche Sinneseindrücke und Erfahrungen, Klänge und Rhythmen zu einer Sprache, die uns einzigartige Erkenntnisse über unsere Welt ermöglichen. Erkenntnisse und Erlebnisse, die viel tiefer gehen als es die rein faktische Wissensvermittlung leisten kann. Erkenntnisse, deren Kraft aus dem Assoziativen geschöpft wird. Als Leser, Hörer, Rezipienten von Dichtkunst gewinnen wir in dieser poetischen Erfahrung neue Perspektiven und Einsichten – ein für den gesellschaftlichen Diskurs unserer Zeit unerlässliches Moment. 

Denn in Zeiten der »halben Wahrheiten«, der Fake-News, der populistischen missbrauchten schmutzigen »Tatsachen«, verliert das Faktische zunehmend an Wert. Doch es wäre fatal, das Vakuum dem Postfaktischen zu überlassen, dem Gefühlten, Unterschwelligen, Dumpfen. Vielmehr ist hier der Platz für die Besinnung auf künstlerische Klang-, Sprach- und Erfahrungswelten, wie sie die Dichtung bietet und die uns ganz neue Erkenntnisse über die Aufgaben und Herausforderungen der menschlichen Zukunft bieten können.

Was aber ist Dichtung, wie definieren wir diesen Begriff? Deutschland ist in dieser Beziehung recht spießig. Wir leben in einer extremen Leistungsgesellschaft und unterwerfen alles, was wir tun, einem Leistungsgedanken. Die Markt- und Verwertungslogik dominiert unser Denken und Handeln in beinahe allen gesellschaftlichen Bereichen. Leider macht dieses Denken auch vor der Dichtung nicht halt. In manchen Kreisen wird Dichtung nur dann wahr- und ernstgenommen, wenn sie einen »professionellen« Hintergrund aufweist. 

Doch die Zahl derjenigen deutschsprachigen Lyrik-Autorinnen und -Autoren, die diesem Anspruch genügen und von ihrer Dichtkunst leben können, kann man an einer Hand abzählen. In einer 2017 erschienenen Studie des Berliner Hauses für Poesie zur Einkommenssituation von Dichterinnen und Dichtern in Deutschland, stellte sich heraus, dass fast die Hälfte aller hauptberuflichen Dichter in Deutschland unter der Armutsgrenze lebt. 

Die Mehrheit der deutschsprachigen Dichterinnen und Dichter geht anderen beruflichen Tätigkeiten nach, viele sind in wissenschaftlichen Bereichen tätig, sind in der Kulturbranche aktiv oder im Sozialwesen. Aber auch in den Bereichen Werbung, Marketing, Journalismus und Gastronomie verdienen viele Dichterinnen und Dichter ihren Lebensunterhalt. Für 93 Prozent ist das Einkommen »eher sehr unwichtig«. Selbst­bestimmt­­heit, Berufung und Spaß sind der Studie zufolge die wichtigsten Motivatoren für einen schriftstellerischen Werdegang. 

Umso wichtiger ist es, nebenberuflichen Autorinnen und Autoren ihre Anerkennung und ihre Plattform zu geben. Denn Lyrik muss frei vom professionellen, elitären Anspruch den Mechanismen der Verwertungsgesellschaft trotzen.

Dies ist genau das Ziel, das wir, die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte, seit mittlerweile zwei Jahrzehnten verfolgen. Nebenberufliche Autorinnen und Autoren, und das heißt ganz bewusst auch Hobbyautorinnen und -autoren, dürfen und sollen auch künftig – neben den Profis – hier ihr Zuhause finden. Dafür hat die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte immer wieder Kritik aus dem Lager derjenigen einstecken und aushalten müssen, die Dichtung enger definieren bzw. die letztlich der Markt- und Verwertungslogik nachlaufen und nur den wenigen Dichtern einen Platz geben wollen, die von ihren Arbeiten auch leben können bzw. bereits Erfolge vorzuweisen haben.

In diesem Sinne danken wir allen Autorinnen und Autoren, die dieses offene und spannende Lyrikprojekt in den vergangenen Jahrzehnten unterstützt haben, die ihre Gedichte für die Wettbewerbe eingereicht haben, die eine oder mehrere Publikationen erworben haben oder den staatlich geprüften Fernlehrgang der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte absolviert haben. 

Ihnen allen haben wir dieses großartige Projekt zu verdanken, das wir – nach 20 aktiven Jahren – durchaus als eine breite Bewegung für eine lebendige und vielschichtige deutschsprachige Lyrik verstehen dürfen.

 

Cornelius Büchner
Bibliothek deutschsprachiger Gedichte