Gottfried Keller "Die Zeit geht nicht"

 Die Zeit geht nicht

Die Zeit geht nicht, sie stehet still, 

Wir ziehen durch sie hin; 
Sie ist die Karawanserei, 
Wir sind die Pilger drin. 

Ein Etwas, form- und farbenlos, 

Das nur Gestalt gewinnt, 
Wo ihr drin auf und nieder taucht, 
Bis wieder ihr zerrinnt.

Es blitzt ein Tropfen Morgentau 

Im Strahl des Sonnenlichts; 
Ein Tag kann eine Perle sein 
Und ein Jahrhundert nichts. 

Es ist ein weißes Pergament 

Die Zeit, und jeder schreibt 
Mit seinem roten Blut darauf, 
Bis ihn der Strom vertreibt. 

An dich, du wunderbare Welt, 

Du Schönheit ohne End', 
Auch ich schreib' meinen Liebesbrief 
Auf dieses Pergament. 

Froh bin ich, daß ich aufgeblüht 

In deinem runden Kranz; 
Zum Dank trüb' ich die Quelle nicht 
Und lobe deinen Glanz.

Gottfried Keller