Der Leser als Zwilling des Autors

Als Autor schreibt  man nicht nur für sich selbst, man schreibt vor allem für den Leser. Was das ganz praktisch bedeutet, erläutert dieser Beitrag, er ist der Mappe 9 des Fernstudiums "Das Lyrische Schreiben" entnommen. Mehr zum Fernstudium >>> hier.

Wem eigentlich öffnet sich der Leser bei der Lektüre eines Gedichtes? Mit wem kommt er ins Gespräch? Sucht er in den Zeilen den Autor als Gegenüber? Oder begegnet er sich im Spiegel der Verse selbst? Wie gerät der Leser über wenige Worte, die er mitunter kaum versteht, in Euphorie? Wie geben ihm Verse Trost? Kurzum: Worin besteht das Vergnügen, Gedichte zu lesen, worin, dass wir sie sogar immer wieder hervorholen und uns an ihnen erfreuen?

»Autor und Leser sind Zwillinge« zitiert Hilde Domin (*1909) in einem früheren Aufsatz die englische Dichterin Virginia Woolf und nimmt dieses Thema auch in einer ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen während des Winterhalbjahres 1987/88 auf. Das Gedicht, so Domin, wandert nach seiner Fertigstellung vom Autor zum Leser, der es mit seinen Erfahrungen füllt und unabhängig davon, aus welcher Zeit es stammt, für sich auffrischt. »Daher sind Gedichte, solange sie wirksam sind, und für den sie wirksam sind, aktuell: Gesprächspartner (besser: Selbstgesprächspartner).«

Die Verszeilen werden gleichsam zu eigenständigen, »lebendigen Wesen«, denen der Leser begegnet. Sie haben sich von ihren Urhebern emanzipiert:

Worte drehen nicht den Kopf
sie stehen auf
sofort
und gehen

Hilde Domin 

Die Dichter nach den Intentionen und Beweggründen ihres Schreibens zu fragen, verengt das Gedicht. Allzu rasch überlagern die Zusatzinformationen nämlich die ihm einverleibte Botschaft mit dem Klartext unwichtig gewordener Fakten. Und auch der Autor, der sein Werk vorschnell kommentierte, würde sich laut Ursula Krechel (*1947) – sie wurde in den 70er-Jahren bekannt –  der Kritik aussetzen, warum er nicht alles in seinen Versen bereits gesagt habe. »Wer über sein Gedicht spricht, springt über seinen Schatten.« 

Die Auseinandersetzung mit dem lyrischen Text, die der Leser als »Mitautor« bewältigen müsste, wird bei solch oberflächlicher Gedankenakrobatik, die sich übermäßig Informationen aus dem Außen holt, zurückgedrängt. In der Körperlichkeit, im Atem und dem Sprechrhythmus, der das Gedicht an den eigenen Herzschlag und Lebensimpuls zurückbindet, liegt der Punkt, der die Gefühlskomponente auslöst und den Leser in das Gedicht hineinzieht. Hilde Domin macht gerade im oftmals gebrochenen Rhythmus und der zerstückelten Verszeile des modernen Gedichtes einen verstärkten Erregungszustand fest.

Für ihre jüngere Dichterkollegin Brigitte Oleschinski – 1998 mit dem Peter-Huchel- und 2001 mit dem Ernst-Meister-Preis ausgezeichnet – gelten Gedichte als »Körperstimme par excellence«.

Oleschinski zieht ein anschauliches Resümee, worum es im Verhältnis von Autor, Leser und Gedicht geht. Autor und Leser, so lässt sich der »Zwillingsgedanke« dabei miteinbeziehen, verschwinden beide in ihrem Gegenüber, dem Gedicht.

»Sie müssen auf die Gedichte hören, nicht auf mich!, und wider besseres Wissen hoffte ich eine Weile stets, es werde den Fragen doch noch um die Erfahrung mit Gedichten gehen, um Wahrnehmung und Sprache also, den Klang des Denkens und die Botschaften einer Form, die wie keine andere Gefühl und Erkenntnis ineins setzt (...). Aber was sich an diesem Punkt zu Wort meldete, schien immer dasselbe Mißverständnis zu sein, nachgestellt von einem Publikum, in dem sich die vielfältigsten und verschiedensten Ansprüche an das Gedicht ausmachen ließen, doch beim Anblick einer Dichterin auf der Bühne schmolzen sie unvermittelt zu einer einzigen entschlossenen Erwartung zusammen: Nun, nach dem Umweg über die Lyrik, sollte der Klartext kommen, ein faßbares Anliegen, hinter dem manche noch privatere Enthüllungen witterten (...). Es war ein Mißverständnis von beiden Seiten her, denn im Grunde wußten alle, daß sich Gedichte nicht aus den Ansichten ihrer Autorinnen oder Autoren begreifen lassen, sondern in jeder einzelnen Leserin, jedem einzelnen Zuhörer neu entstehen. (...) Gedichte sind eigene Entitäten. Die Begegnung mit ihnen ist wie die mit einem lebendigen Wesen, einem Körper aus Wahrnehmungen und Bedeutungen, der uns als reale Erfahrung gegenübertritt, wirklich wie ein Kind, ein Baum, ein bewegter Wasserspiegel. Mit anderen Worten, die Frage zwischen Publikum und Dichterin müßte eigentlich lauten: Wie lesen Sie, wie hören Sie Gedichte? Gefragt wurde aber: Warum schreiben Sie?«