An Charlotte von Stein

An Charlotte von Stein
I
Deine Grüße hab ich wohl erhalten.
Liebe lebt jetzt in tausend Gestalten,

Gibt der Blume Farb und Duft,

Jeden Morgen durchzieht sie die Luft,

Tag und Nacht spielt sie auf Wiesen, in Hainen,

Mir will sie oft zu herrlich erscheinen;

Neues bringt sie täglich hervor,

Leben summt uns die Biene ins Ohr.

Bleib, ruf ich oft, Frühling! man küsset dich kaum,

Engel, so fliehst du wie ein schwankender Traum;

Immer wollen wir dich ehren und schätzen,

So uns an dir wie am Himmel ergötzen.
II 
Ach, wie bist du mir,

Wie bin ich dir geblieben!

Nein, an der Wahrheit

Verzweifl ich nicht mehr.

Ach, wenn du da bist,

Fühl ich, ich soll dich nicht lieben;

Ach, wenn du fern bist,

Fühl ich, ich lieb dich so sehr.
III
 
Frage nicht nach mir, und was ich im Herzen verwahre,

Ewige Stille geziemt ohne Gelübde dem Mann.

Was ich zu sagen vermöchte, ist jetzo schon kein Geheimnis;

Nur diesen Namen verdient, was sich mir selber verbirgt.
Arm an Geiste kommt heut spät dein Geliebter vor dich;

Arm an Liebe kommt er weder frühe noch spät.
Johann Wolfgang von Goethe