Erfahrung als Schlüssel zum Dichten

Ein Beitrag aus der Lehrgangsmappe II des staatlich zugelassenen Fernstudiums "Das Lyrische Schreiben" der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.

Oft wird ein persönliches Erlebnis zum Anlass eines Gedichtes. Doch Glaubwürdigkeit stellt sich damit nicht automatisch ein. Die Aussage bleibt privat und vermag fremde Leser kaum zu berühren. Erfahrungen und Erkenntnis – wie fließen sie also überzeugend in Ihre Verse ein? Die zweite Kurseinheit stellt Ihre »dichterische Persönlichkeit« in den Mittelpunkt. Die Sensibilisierung Ihrer Wahrnehmung, die Umsetzung von Begebenheiten und Eindrücken in die bewusst gestaltete Sprache, die stets geforderte Erweiterung Ihres Horizontes stehen auf dem Themenplan.

»Erst wenn sie [die Erinnerungen] Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß [...] das erste Wort eines Verses aufsteht.« Rainer Maria Rilke (1875–1926)

Der Erfahrungsschatz

Rainer Maria Rilke , von dem das Motto dieser Studienmappe stammt, beleuchtet in seinen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« noch einen weiteren Aspekt unseres zusammengetragenen Schreibmaterials: »(…) aber mit Versen ist so wenig getan, wenn man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang, und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß, vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug), – es sind Erfahrungen. Um eines Verses willen muß man viele Städte sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen, man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich auftun am Morgen.« Weder das Zurückdenken noch das bloße Erinnern reichen jedoch, wie Rilke in seiner Erzählung fortfährt, für das Dichten aus. Die Persönlichkeit muss an den Erinnerungen wachsen: »Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde, namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns selbst, erst dann kann es geschehen, daß (...) das erste Wort eines Verses aufsteht (...).« Im wachen Blick für Gelegenheiten und in unserem Erleben ist also ein Erfahrungsschatz anzusammeln, der unserem Dichten zugute kommt. Vermutlich wäre es dabei nur wenig ratsam, unser Verseschmieden bis ins hohe Alter aufzuschieben. Denn auch das Dichten selbst, der Umgang mit den Wörtern, schreibt sich in unsere Erfahrung ein. Wir lernen im Verlauf unseres Dichterlebens uns immer präziser und individueller, origineller auszudrücken. Die Klarheit unseres Ausdrucks nimmt zu. Aber ähnlich wie bei den Gefühlen sei auch an dieser Stelle vor einer Illusion gewarnt und das Motto unserer ersten Studienmappe noch einmal in den Blick gerückt: Verse sind aus Wörtern gemacht. In welcher Form diese Erfahrungen und Sinneseindrücke – eins mit uns geworden – in unser Gedicht einfließen, wird deutlicher, wenn wir im Verlauf des Kurses unser Denken und unsere Bildersprache anschauen. Hier, wo es gilt, Ihre Stärke als Sprachschöpfer zu betonen und Sprache als Ihr Handwerkszeug und Ausgangsmaterial zu definieren, mag es zunächst besser sein, daran festzuhalten, dass aus unseren Erfahrungen Erfindungen werden. Mit zunehmender »Reife« verfügen wir über ein breiteres Spektrum von Kombinationsmöglichkeiten und besitzen einen Nuancenreichtum, da wir uns das Wissen über die Welt in vielfältigen Perspektiven angeeignet und umgesetzt haben. Wir wagen uns daher auch schneller und sicherer in das kreative »Neuland« des Schreibens hinaus und verzichten mit unserem Erfahrungsschatz auf Standardformulierungen und Klischees. Gerade diese Typisierungen, die ursprünglich originell, seit Jahrhunderten aber weiterverwendet werden und nur noch von konventioneller Bedeutung (eigentlich nicht mehr) leben, können uns nicht mehr »irritieren« und gehören in das »Laboratorium« Gottfried Benns, um gesprengt und zertrümmert zu werden.