Die Schenke am See

Die Schenke am See
Ist's nicht ein heit'rer Ort, mein junger Freund, 
Das kleine Haus, das schier vom Hange gleitet, 
Wo so possierlich uns der Wirt erscheint, 
So übermächtig sich die Landschaft breitet; 
Wo uns ergötzt im neckischen Kontrast 
Das Wurzelmännchen mit verschmitzter Miene, 
Das wie ein Aal sich schlingt und kugelt fast, 
Im Angesicht der stolzen Alpenbühne?

Sitz nieder! -Trauben! - und behend erscheint 
Zopfwedelnd der geschäftige Pygmäe; 
O sieh, wie die verletzte Beere weint 
Blutige Tränen um des Reifes Nähe; 
Frisch, greif in die kristallne Schale, frisch! 
Die saftigen Rubine glühn und locken; 
Schon fühl' ich an des Herbstes reichem Tisch 
Den kargen Winter nahn auf leisen Socken.

Das sind dir Hieroglyphen, junges Blut, 
Und ich, ich will an deiner lieben Seite 
Froh schlürfen meiner Neige letztes Gut, 
Schau her, schau drüben in die Näh' und Weite; 
Wie uns zur Seite sich der Felsen bäumt, 
Als könnten wir mit Händen ihn ergreifen, 
Wie uns zu Füßen das Gewässer schäumt, 
Als könnten wir im Schwunge drüber streifen!

Hörst du das Alphorn überm blauen See?
So klar die Luft, mich dünkt, ich seh' den Hirten
Heimzügeln von der duftbesäumten Höh' -
War's nicht, als ob die Rinderglocken schwirrten? 
Dort, wo die Schlucht in das Gestein sich drängt 
Mich dünkt, ich seh den kecken Jäger schleichen; 
Wenn eine Gemse an der Klippe hängt, 
Gewiß, mein Auge müßte sie erreichen.

Trink aus! - die Alpen liegen stundenweit, 
Nur nah die Burg, uns heimisches Gemäuer, 
Wo Träume lagern lang verschollner Zeit, 
Seltsame Mär' und zorn'ge Abenteuer. 
Wohl ziemt es mir, in Räumen schwer und grau, 
Zu grübeln über dunkler Taten Reste; 
Doch du, Levin, schaust aus dem grimmen Bau 
Wie eine Schwalbe aus dem Mauerneste.

Sieh drunten auf dem See im Abendrot 
Die Taucherente hin und wieder schlüpfend; 
Nun sinkt sie nieder wie des Netzes Lot, 
Nun wieder aufwärts mit den Wellen hüpfend; 
Seltsames Spiel, recht wie ein Lebenslauf! 
Wir beide schaun gespannten Blickes nieder; 
Du flüsterst lächelnd: immer kömmt sie auf! 
Und ich, ich denke: immer sinkt sie wieder!

Noch einen Blick dem segensreichen Land,
Den Hügeln, Auen, üpp'gem Wellenrauschen. 
Und heimwärts dann, wo von der Zinne Rand 
Freundliche Augen unserm Pfade lauschen; 
Brich auf! - da haspelt in bebendem Lauf 
Das Wirtlein Abschied wedelnd uns entgegen:
"- Geruh'ge Nacht - stehn's nit zu zeitig auf!"
Das ist der lust'gen Schwaben Abendsegen.
Annette von Droste-Hülshoff