Lyrik im Mittelalter - Im Gesang zum Reim

Ein Beitrag aus der Lehrgangsmappe VI des staatlich zugelassenen Fernstudiums "Das Lyrische Schreiben" der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.

Das Mittelalter: Im Gesang zum Reim
Die Epoche des Mittelalters umfasst eine Zeitspanne von ca. 700 Jahren (8. bis 15. Jahrhundert). In diesem Zeitraum erlebte die europäische und damit auch die deutsche Kultur Höhen und Tiefen. Neben Zeiten großer Verelendung und Verödung standen Epochen wirtschaftlicher und kultureller Blüte. Die Gesellschaft war in drei große Stände strukturiert. Der »Lehrstand« wurde von der Geistlichkeit, dem Klerus, repräsentiert. Neben dem »Wehrstand«, der aus dem Adel bestand, lebte als so genannter »Nährstand« das produzierende Volk, also Bauern und Handwerker. Kulturelle Zentren waren die Klöster, in denen Schrifttum bewahrt, vervielfältigt und erstellt wurde. Die gesamte Gesellschaft war durchdrungen von den Inhalten der christlichen Lehre und ihren Vorstellungen vom dualistischen Prinzip der Sünde und Buße, die sich im Glauben an ein jenseitiges Weiterleben im Himmel oder in der Hölle fortsetzte. Artikulationsraum für derartige Texte war weitestgehend die Kirche. Wichtiger Bestandteil der religiösen Rituale war das Singen von Kirchenliedern. Dies geschah sowohl in der klerikalen Gemeinschaft, also hinter Klostermauern, wie auch innerhalb der Kirche, während der öffentlichen Rituale, beispielsweise der Liturgie.

Die Inhalte frühester deutschsprachiger Dichtung waren notwendigerweise das Ringen um Tugenden, deren Kodex die gesellschaftliche Ordnung bewahren helfen sollte. Eine Ausnahmestellung im Kontext der christlich-religiös durchdrungenen Dichtung stellen die Merseburger Zaubersprüche (vor 750 entstanden) dar. Diese Sammlung ist die einzige erhaltene vorchristliche Dichtung.
 
 
Merksatz:  Inhaltlich war die früheste deutsche Dichtung durchdrungen von der christlichen Religion, der wichtigsten Macht neben den weltlichen Herrschaftspolen.
 

Merseburger Zaubersprüche

Erster Spruch (Lösezauber)
Eiris sazun idisi, sazun hera duoder.
Suma hapt heptidun, suma heri lezidun,
suma clubodun umbi cuoniouuidi:
insprinc haptbandun, inuar uigandun!
Einst ließen sich die Idensen nieder, setzten sich hierhin
und (setzten sich) dorthin.
Einige fesselten (die Feinde), andere hemmten (das feindliche)
Heer,
wiederum andere lösten die Fesseln (des Freundes):
löse dich aus den Fesseln, entflieh den Feinden!
Die Merseburger Zaubersprüche, deren heidnischer Ursprung unübersehbar ist, dokumentieren die Sehnsüchte der Menschen nach Mitteln, mit denen sie sich aus unüberwindlichen, gegen Leib und Leben gerichteten Situationen befreien konnten. Not und Bedrohung waren stets gegenwärtig. Also suchte man sein Heil im Aberglauben und dem tiefen Wunsch auf Wunder. Zur Form dieser lyrischen Werke bleibt zu betonen, dass wir weder in den Zaubersprüchen, noch in anderen Werken dieser Zeit eindeutige Formmerkmale finden.
Zu den wichtigsten Werken des 9. Jahrhunderts gehörte das »Hildebrandslied« (um 830/840), eine Sammlung von Heldenliedern. Das Werk »Heliand« (um 850) war eine Heilsgeschichte, in der zu Missionszwecken das »Leben Jesu« wiedergegeben wurde. Schließlich zählt noch das »Wessobrunner Gebet« zu den überlieferten Werken. Diese Gebetsammlung entstand um 770/780.
 

Wessobrunner Gebet

De poeta
Dat gafregin ih mit firahim firiuuizzo meista,
Dat ero ni uuas noh ufhimil,
noh paum, noh pereg ni uuas,
ni sterro noheinig, noh sunna ni scein,
noh mano ni liutha, noh der mareo seo.
Do dar niuuiht ni uuas enteo ni uuenteo,
enti do uuas der eino almahtico cot,
manno miltisto, enti dar uuarun auh manake mit inan
cootlihhe geista, enti cot heilac.
Cot almahtico, du himil enti erda gauuorahtos
enti du mannun so manac coot forgapi:
forgip mir in dina ganada rehta galaupa
enti cotan uuilleon, uuistóm enti spahida enti craft,
tiuflun za uuidarstantanne enti arc za piuuisanne
enti dinan uuilleon za gauurchanne.

Von einem Dichter
Das habe ich bei den Menschen als größtes Wunder erfahren:
daß es die Erde nicht gab und nicht den Himmel,
es gab nicht den Baum und auch nicht den Berg,
es schien nicht ein einziger Stern, nicht die Sonne,
es leuchtete weder der Mond noch die glänzende See.
Als es da also nichts gab, was man als Anfang oder als Ende
hätte verstehen können,
gab es schon lange den einen allmächtigen Gott,
den reichsten an Gnade. Bei ihm waren auch viele
Geister voll Herrlichkeit, früher (als sie aber war) der heilige Gott.
Allmächtiger Gott, du hast Himmel und Erde erschaffen
und den Menschen so manches Gut verliehen:
verleihe mir rechten Glauben an deine Gnade
und guten Willen, Weisheit, Klugheit und Kraft,
den Teufeln zu widerstehen und das Böse zu meiden
und deinen Willen zu tun.
In den vorangegangenen Beispielen finden wir ganz ohne Zweifel literarisch poetische Ansätze, die sich aber vornehmlich im Sprachduktus zeigen. Lyrische Formelemente sind als solche nur begrenzt auszumachen. Diese werden erst durch Otfried von Weißenburg in die deutsche Literatur eingeführt. Zwischen ca. 830 und 868 schuf er ein Evangelienbuch mit dem Titel »Liber evangeliorum theotisce conscriptus«. Die heutige Bezeichnung des Werkes ist »Die Evangelienharmonie«. Es wurde zu liturgischen Zwecken geschaffen und in südrheinfränkischer Sprache geschrieben. Liturgien werden gesungen und darum bemühte sich Otfried um eine Form, die der Melodiosität des Vortrags entsprach.
 
Wolaga élilenti! hárto bistu hérti,
thu bist hárto filu suár, thaz ságen ih thir in álawar!
Mit árabeitin wérbent, thie héiminges thárbent;
ih haben iz fúntan in mír; ni fand ich líbes wiht in thír;
Ni fand in thír ih ander gúat, suntar rózagaz muat,
séragaz herza joh mánagfalta smérza!
Ob uns in múat gigange, thaz unsih héim lange,
zi thémo lante in gáhe ouh jámar gifáhe:
Farames, so thíe ginoza, ouh ándara straza,
then wég, ther unsih wénte zí éiginemo lánte.

Ach, Fremdland! sehr bist du hart;
du bist gar sehr schwer, das sage ich dir fürwahr,
In Mühsalen leben, die der Heimat entbehren,
ich habe es an mir erfahren; ich fand nichts Liebes an dir.
Ich fand in dir kein anderes Gut außer traurigen Sinn,
schmerzerfülltes Herz und mannigfaltigen Schmerz.
Wenn uns in den Sinn kommt, daß uns heim verlangt
nach dem Lande plötzlich auch Sehnsucht uns ergreift,
Fahren wir, wie die Genossen, auch eine andere Straße,
den Weg, der uns wende zu dem eigenen Lande.
Wir können getrost davon sprechen, dass Otfried die Grundlagen der späteren deutschen Metrik schuf. Seine lyrische Konstruktion besteht in einer Zeile aus jeweils zwei Kurzversen, die gleich klingend enden. Es findet sich also bei näherer Betrachtung ein Reim innerhalb jeder Zeile. Zudem strebte er eine gleichmäßige Aufeinanderfolge von stimmlichen Hebungen und Senkungen an, um dem Vortragenden die intonatorische Akzentuierung vorzugeben. Etwa um 1170 entstanden die ersten literarischen Werke in mittelhochdeutscher Sprache. Drei große Werke dieser Zeit beeinflussen das Denken und die Literatur noch heute. Wolfram von Eschenbach (um 1170 bis um 1220) verfasste das Versepos »Parzifal« und Gottfried von Straßburg (2. Hälfte des 12.Jh. bis Anfang des 13. Jh.s) ging mit seinem Werk »Tristan und Isolde« in die Literaturgeschichte ein. Neben dem »Nibelungenlied« (um 1200), das Werk eines unbekannten Dichters aus dem Donauraum, waren dies die wirkungsvollsten Dichtungen des so genannten Hochmittelalters. Alle Werke zusammen erzählen die bedeutendsten europäischen Sagen.
Merksatz: Otfried von Weißenburg führte mit seinem Bibelepos »Die Evangelienharmonie« den Endreim in die deutsche Lyrik ein. Er strukturierte sein Werk nach metrischen Gesetzen und schrieb Hebungen und Senkungen vor, um den Vortragenden zu leiten. 
 

Neben den großen Sagendichtungen entstand in der 2. Hälfte des 12.Jahrhunderts eine überaus bedeutende Form der Lyrik, nämlich der »Minnesang«. Die Entstehung der Minne-Lyrik ist ein Hinweis auf die sich umgestaltenden Verhältnisse innerhalb der feudalen Gesellschaften. Die Kreuzzüge des 12. Jahrhunderts waren grenzen- und sprachenüberschreitende
Unternehmungen. 
Bedeutende Machtzentren entstanden, in denen Adelige in einen Wettbewerb zur Sicherung ihrer Ansprüche traten. Die Beziehungen der Menschen wurden komplexer und komplizierter. Selbsterfahrungen und Selbstreflexionen wurden Thema von Kunst und eine Sensibilisierung für emotionale und ästhetische Werte verlieh der Gesellschaft ein neues Antlitz. Hinzu kam, dass der Einfluss der Kirche infolge des verheerenden Scheiterns der Kreuz züge und infolge des so genannten »Investiturstreites« schwand. So verlagerten sich die Themen der Lyrik von geistlichen hin zu weltlichen. Es gab eine nicht unbeträchtliche Zahl von Dichtern,
deren Minnesang 
bis heute überliefert ist. Es sollen nur einige wenige angeführt werden: Friedrich von Hausen (um 1150–1190), Albrecht von Johannsdorf (2. Hälfte des 12. bis Anfang des 13.Jh.s), Heinrich von Morungen (2. Hälfte des 12. bis Anfang des 13.Jh.s) und Reinmar der Alte (2. Hälfte des 12. Jh.
bis Anfang des 13. Jh.s). Diese Namen sollen als Anregung dienen,
in einer Literaturgeschichte nachzulesen. Der wichtigste Vertreter
des Minnesangs ist unbestritten Walther von der Vogelweide
(um 1170 bis um 1230). 

Die bekanntesten Gedichte von Walther von der Vogelweide finden Sie hier

Inhalte: Im Minnesang als Liebesdichtung ging es häufig um die Verklärung von adligen Damen, zumeist verheirateten, die in ihrer Unerreichbarkeit, Schönheit und Tugend zum Symbol der Vollkommenheit avancierten. Das aufgezeigte Gedicht von Walther von der Vogelweide deutet bereits an, dass Walther über die reine Liebes- und Frauenverehrungslyrik hinaus, religiöse, ethisch-moralische und politische Themen behandelte. Darin besteht ein besonderes Verdienst Walthers. Seine Kunstfertigkeit und seine Universalität machten ihn zu einem der bedeutendsten Dichter seiner Zeit.

Die bekanntesten Gedichte von Walther von der Vogelweide finden Sie hier.

Kontrollaufgaben:

1.) Kreuzen Sie bitte an, in welchem literarischen Werk der Endreim erstmals zur Anwendung kam, und wer war sein Verfasser?
a) Wessobrunner Gebet von einem unbekannten Dichter
b) Parzival von Wolfram von Eschenbach
c) Die Evangelienharmonie von Otfried von Weißenburg

2.) Was war hauptsächlich der Inhalt von Minnesang?

3. Nennen Sie den bedeutendsten Vertreter des Minnesangs. Was war sein besonderes Verdienst?