20 Jahre BdG – eine lyrische Zeitreise

Die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte feiert 20-jähriges Jubiläum. Wir nehmen dies zum Anlass, um auf die letzten 20 Jahre zurückzublicken und entführen Sie, liebe Autoren und Leser, auf eine Reise in die lyrische Vergangenheit der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte mit vielen spannenden zeitgeschichtlichen Querverweisen.

Ein Essay von Madeleine Scherer

Erinnerung an Vergangenes kann durch vielerlei Dinge wachgerufen werden. Wer kennt es nicht: Ein bestimmter Geruch weckt überraschend alte Kindheitserinnerungen, ein Lied kann längst verdrängte Gefühle aufkommen lassen, ein Bild aus vergangenen Zeiten zaubert uns ein Lächeln oder treibt uns gar die Schamröte ins Gesicht (ich sage nur Führerscheinbild und Klassenfotos). Gleichermaßen verhält es sich mit Worten, die in uns ganz individuelle Gefühle auslösen und dementsprechend auch mit Lyrik. Denn was ist Lyrik in diesem Sinne anderes als eine Reihe von sprachlichen Bildern, die in uns eine Vielzahl von Emotionen hervorruft? 

Wenn Sie, liebe Leser, einmal in sich gehen und auf ihre letzten 20 Lebensjahre – sofern sie diese denn schon füllen – zurückblicken: Welche Ereignisse sind Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben, was hat sie besonders geprägt? 

Geht man von der persönlichen, biographischen Ebene aus, so lässt sich die Frage nur sehr individuell beantworten. Die erste große Liebe sowie Geburten, Hochzeiten und Todesfälle innerhalb des Familien- und Bekanntenkreises setzen sich als einschneidende Erlebnisse natürlich besonders im Gedächtnis fest. Doch gibt es auch Ereignisse in den vergangenen 20 Jahren, die eine ganze Nation bewegt haben. Und zwar so sehr bewegt haben, dass wir, die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte, zum Archivar von 20 Jahren Zeitgeschehen wurden. Denn 20 Jahre Bibliothek deutschsprachiger Gedichte bedeuten 20 Jahre lyrische Aufarbeitung unserer Zeitgeschichte. 

Die Rekonstruktion der Historie vollzieht sich anhand von rund 80.000 Gedichten, die in den letzten 20 Jahren in unseren Anthologien I bis XX publiziert wurden.  Diese Gedichte laden uns nicht nur zur Begegnung mit uns selbst ein, sondern sind zudem Abbild und Filter geteilter emotionaler Erfahrungen einer Gesellschaft. Solche Erfahrungen müssen erst einmal verarbeitet werden und Literatur und im Speziellen Lyrik kann als wichtiges Werkzeug hierfür dienen im Sinne einer verantwortungsbewussten Erinnerungskultur und Erkenntnisgewinnung im Blick auf neue Zukunftsperspektiven. 

Doch welche gesellschaftspolitischen und sozialhistorischen Ereignisse haben sich im Konkreten in das kollektive Gedächtnis eingebrannt und wurden im Gewand der Lyrik verpackt bzw. verarbeitet? Wir wollen unsere virtuelle Zeitreise nun beginnen und laden Sie ein, gemeinsam mit dem Team der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte, in einigen ausgewählten Gedichten unserer Autoren zu schmökern, die zu ihrer Zeit die Gemüts- und Geisteszustände unserer Gesellschaft abbildeten. Gehören Sie eher zur zartbesaiteten Sorte, so legen Sie sich Taschentücher und Tee bereit, nein zur Feier vielleicht besser Rotwein – wir wollen dem Klischee des Dichters doch bitte gerecht werden.

„Drück mal auf die Rückspultaste“

Wir begeben uns zurück in Anno 1998. Hier beginnt die Geschichte der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte und damit unsere poetische Zeitreise. Genau genommen beginnt unsere Zeitreise sogar schon 1997. Denn unsere jährlich stattfindenden Lyrikwettbewerbe ermöglichen unseren Autoren seit jeher von Januar bis April ein eigens verfasstes Gedicht einzureichen. Und somit werden zumeist die ereignisreichsten Themen des Vorjahres aufgearbeitet. So dürfen Sie sich also nun nicht wundern, wenn für das im Folgenden ausgewählte Gedicht der Anthologie I, die im Jahr 1998 veröffentlicht wurde, vor allem Bezug auf das Jahr 1997 genommen wird. Wir Jubilare der Gedichte-Bibliothek starten zur Einstimmung in unsere virtuelle Geburtstagsfeier nun ein kleines interaktives Spiel mit Ihnen, auf nicht-virtuellen Jubiläumsfeiern bleibt man schließlich auch nicht davon verschont. Wir zeigen Ihnen nun einen kleinen Gedicht-Auszug aus unserer ersten veröffentlichten Anthologie und Sie erraten den zeitgeschichtlichen Kontext. Unter der Kategorie „Betroffen“ findet sich in Anthologie I folgendes Gedicht über eine Person bzw. ein Ereignis:

Hysterisch drehen die Geier
Ihre Runden über London.
Niemand kennt das Geheimnis der Aura.
Und auch wenn die dumpfe Glocke ertönt,
Spielt Elton John
Den Königskindern im Hyde Park ihr Lied –
Zwei Milliarden Stille dazu.
(Farida Gisela Saadani, Anthologie I, S.58)

Na, von wessen Aura wird hier wohl die Rede sein? Damit sie hier nicht spicken, findet sich die Auflösung bzw. der Titel des Gedichts am Ende des Artikels. Wir wollen es Ihnen ja nicht zu einfach machen.

Fahren wir unsere Reise in die Vergangenheit fort, so befinden wir uns recht bald an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Die Zeitenwende geht auch an der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte nicht spurlos vorbei und so spiegelt sich die Wende von 1999 auf das Jahr 2000 auch in den Gedichten unserer Autoren wider. Die sogenannte „junge Lyrik des 21. Jahrhunderts“ befindet sich im Wandel. Sie verpflichtet sich dem Hier und Jetzt und nicht mehr so sehr der Vergangenheitsbewältigung (Stichwort: Trümmerlyrik/ z.B Celans Todesfuge). Unsere Anthologien II-IV aus den Jahren 1999 bis 2001 dokumentieren überwiegend urbane Lyrik, welche die Provinz in Kontrast zu der Großstadt setzt. Ferner beziehen sich die Gedichte vermehrt auf Popkultur und hierbei vor allem auf Neologismen und Anglizismen der englischsprachigen Musikszene. So finden sich in diesen Jahren viele Gedichte, die Titel wie „Junkfood“, „Disko“, „Wir sind cool“ oder „Das Handy“ tragen. Hier eine kleine Gedicht-Kostprobe von einem Autor der Anthologie IV, der den Versuch wagt, in der damals aufkeimenden Rapszene – immerhin Lyrik im weitesten Sinne – Fuß zu fassen:

    KULTUR ZWEITAUSEND“

So ein Rap,
Ja der zappt
In die Birne locker rein.
Wenn er klappt,
Ja dann hat
Der Sänger Riesenschwein.

Gro-ßer Bru-der Kopf o-der Zahl.
ER-Te-eL läßt dir kei-ne Wahl.
Bild-Zei-tung, sie schult dei-nen Geist.
Geklont, geklont – ja so ein Scheiß. (...)

(Wilfried Herzog, Anthologie IV, S.226)

Na, haben Sie auch den Flow gespürt, heimlich mitgewippt und den Text vorgerappt statt vorgelesen? Heute würde man den Dichter/ Rapper wohl – verzeihen Sie bitte – auslachen, damals war es wohl noch „hip“, um einen ebenso „uncool“ gewordenen Ausdruck zu verwenden. 

„Absolute Wahnsinnsshow im Fernsehen und im Radio“

Wir verabschieden uns von „Disko“ und Junkfood“ und bereiten uns auf die Anthologie V (Erschienen 2002) vor, die inhaltlich unter einem traurigen Stern steht. Denn sie verarbeitet die Geschehnisse des Jahres 2001 und hierbei im Konkreten – Sie können es sich schon denken – den 11. September. Ein jeder von uns, der diesen Tag miterlebt hat, weiß mit Sicherheit noch, wo er an diesem Tag war, als er von dem grausamen und feigen Terroranschlag erfuhr. Die Bilder haben sich tief in unserer Gedächtnis eingebrannt und wurden von den Autoren der Gedichte-Bibliothek auf vielfältige Art und Weise sprachlich verarbeitet. Von Angst, Freude, Trauer, Wut bis hinzu Hoffnung und Zusammenhalt, ist auf dem Emotionsbarometer alles vertreten. Hier nur eines von vielen anschaulichen Beispielen:

World        Trade
Center        Enter
Grabes        Gruft
Terror        Töten
Killen        Seelen
Wider        Willen
Morden    Global
Handel        Helfen
Kinder        Wandel
Umwelt    Waffen
Rassen        Mächte
Sleeper        Hassen
Dritter        Welt en
Krieg er       Sieg     er
                                                      .SEPTEMBER

(Rena Sutor, Anthologie V, S.252)

Dieser eine Tag, der mit der Zuspitzung des Ost-West-Konfliktes einen politischen Paradigmenwechsel einläutete, befeuerte vor allem kulturelle Stereotype, welche die Autoren unserer Werkbände gerne als Vorlage für Ihr dichterisches Wirken verwendeten und heute noch verwenden. So wird die apokalyptische Dimension der Terroranschläge auch gerne mit religiösen Bildern unterstrichen. Im alttestamentlichen Stil wird ein strafender, sich abwendender Gott, der das Klagen seines Volkes nicht erhört, dargestellt. Der Turmbau zu Babel wird zur christologischen Metapher für die stürzenden Twin Tower, es ist die Rede von Engeln, die vom Teufel heimgesucht wurden und Ground Zero wird zum Nullpunkt erklärt. Ja, man kann sagen Terror bildet innerhalb der Lyrik seither ein eigenes, wenn auch trauriges, Subgenre.

Stehen Sie nun einmal von Ihrem virtuellen Gästetisch unserer Jubiläumsfeier auf, vertreten sich kurz die Beine und schnappen ein wenig Luft. Denn unsere Reise geht weiter – Witz komm raus – nach Jerusalem. Denn in unserer Anthologie VI (2003) wird wieder ein politisch sehr sensibles Thema aufgegriffen: Der Nahostkonflikt. „Jerusalem – Stunde der Wahrheit“ oder „Palästina“ heißen die Titel einiger Gedichte, die vor allem den Bau der Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland aufgreifen. 

„Die Sonne lacht so schadenfroh an Tagen wie diesen“

Wir bleiben im Nahen Osten, Irak, denn hier spitzt sich eine Krise zu, die einen Graben zwischen der Europäischen Union und der Nato entstehen lässt als Resultat des unilateralen Vorgehens Georg W. Bushs im laufenden Irakkrieg. Die Autoren der Gedichte-Bibliothek sind überwältigt von den „Irak News – Durchlaufend – März 2003“, um einmal einen der Titel zu nennen. Das emotive Thema „Krieg“ und im Speziellen der „Irakkrieg“, treibt unsere Autoren zu lyrischen Hochleistungen an. Die angespannte und ungewisse politische Lage muss in der Lyrik nicht einmal explizit mit „(Irak-)Krieg“ betitelt werden, um verstanden zu werden. So bedarf es bei einigen Gedichten nur einer lakonischen Wortwahl:

FRÜHLING 2003

lang war es
ruhig

wie das ausbricht
auf einmal

shock and awe

immer wieder
wie das einschlägt

shocking
and awful

(Wendelinus Wurth , Anthologie VI, S.321)

„Bitte Nummer ziehen“

Wir kommen einmal weg von internationalen Konfliktthemen zu nationalen, denn im Jahre 2005 liefert eine Reform besonders großes Reibungspotential unter den Deutschen: Hartz IV. In den Medien als bürokratisches Monster verschrien, kommt die Reform auch bei unseren Autoren nicht ohne Kritik davon. Und so lautet das einheitliche Credo: „Kämpfen wollen gemeinsam wir, und bezwingen dieses Hartz IV“(VIII).  12 Jahre später ist das „Monster“ noch nicht bekämpft, das Urteil über Erfolg oder Misserfolg der Reform überlassen wir Ihnen. 

Verfügbar/ Nicht Verfügbar – Online/ Offline

In deutschen Jugendzimmern der beginnenden und mittleren 2000er erlebt eine ganz besondere Blume ihre Blütezeit. Es ist die Rede von dem Instant-Messaging-Dienst ICQ, dessen Symbol eine grüne Blume ist. Genervte Eltern erinnern sich sicher an das penetrante „Ah Ohhh“, das im Sekundentakt aus den Lautsprechern des mit Windows 2000 ausgestatteten, damals noch klobigen Computers, ertönte. Als Vorläufer von facebook & Co. läutet der Nachrichtendienst ICQ ein neues digitales Zeitalter ein, das die Menschen überspitzt dargestellt in Online und Offline User einteilt. Hiermit begann auch die Zeit, in der sich die Jugend immer weniger draußen zum gemeinsamen „Abhängen“ verabredete, sondern vielmehr daheim hinter dem Bildschirm, um bis tief in die Nacht zu chatten und zu klicken:

KLICKS

Zwangsgesteuert am PC Computer-wütig
schon bei minimalem Missklick suchst du Nervennahrung;
Zucker-Würfel-Zuspruch; maximalem Murks entflüchtest du im Fritten-Futter 

(...)

(Wolf Allihn, Anthologie IX, S.305)

Themen-Chaträume luden dazu ein, sich über gemeinsame Lieblingsbands oder andere – teils kuriose – Hobbys auszutauschen. Rendezvous oder Blinddates wurden über das Internet kommuniziert und schon bald wurde auf die Frage „Wie habt ihr euch denn kennengelernt?“ mit „Übers Internet“ geantwortet. Die restliche Zeit verbrachten viele – nicht nur Jugendliche  vor dem Fernsehen, dessen Programm eine unserer Autorinnen an den Pranger stellt:

TELEVISION

Dramen und Sensationen im TV
Moderatoren und Nannys so super schlau
Schwangerschaften und Bett-Geschichten
Wer verletzt mal wieder seine Vaterpflichten?

Lehrer und Schüler will man testen
In Quizshows gewinnen nur die Besten!
Es geht um viel Geld, das ist klar!
Und wer wird heute der große Superstar?

Zeigen uns Chaoten voller krankem Mut
Und bezahlen für die Show recht gut
Comedystars machen uns lustig und heiter
Und klettern dadurch auf der Karriereleiter

Jedes Lachen bedeutet Geld
Und der Moderator wird zum Fernsehheld
Und auch wenn die Quote fällt
Diese Unterhaltung braucht die Welt

(Yvonne Jarschel, Anthologie IX, S.363)

Geändert haben sich die Programminhalte bis heute – leider – nicht maßgeblich, geglotzt wird weiter, nur nicht in die Röhre, sondern auf 65 Zoll LED TVs mit Ultra HD. Irgendwie klingt das befremdlich, oder? Die Sprache in den Gedichten unserer Bibliothek hat sich der Sprache des digitalen Zeitalters zunehmend angepasst. Und so muss man sich auch nicht wundern, wenn einem in der Anthologie XII (2009) Akronyme wie L.M.A.A. als Gedichttitel begegnen. Eine Aufschlüsselung ersparen wir Ihnen an dieser Stelle, wir befinden uns schließlich in feierlicher Stimmung. Im Übrigen hat sich in den letzten Jahren auch die Ästhetik des Gedichts verändert. Traditionen und gängige Verfahren wurden zunehmend durchbrochen. So setzt sich in der Lyrik auf formaler Ebene die Kleinschreibung immer mehr durch, freie Verse treten an der Stelle klassischer Sonette und der Reim dominiert nicht mehr allein (haha).

Das Prinzip Verantwortung

Ein Thema, das uns alle betrifft und unsere Kinder und Kindeskinder zwangsläufig betreffen wird, ist der Umgang mit Natur und Umwelt. Während unsereins in Kindertagen noch unbeschwert auf dem kleinen Hügel in der Nachbarschaft Schlittenfahren und dicke Schneemänner bauen konnte, kann sich der Nachwuchs der kommenden Jahrzehnte glücklich schätzen, wenn der Schnee für einen Schneeball reicht. Zumindest, wenn WIR, die sich im Hier und Jetzt befinden, nichts gegen den Klimawandel unternehmen und zu blinden und schweigenden Zeugen von Artensterben, Naturkatastrophen, extremen Hitzewellen und einer geringen Ernte werden wollen. Und so appellieren auch die Autoren der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte an die Vernunft ihrer Zeitgenossen ganz im Sinne des ökologischen Imperativs des Philosophen Hans Jonas (1903-1993), der da lautet: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Eine Autorin der Gedichte-Bibliothek hält uns den Spiegel vor und fordert – wenn auch unterschwellig – dass wir uns unserer Verantwortung nicht mehr länger entziehen dürfen:

DIE UMWELT

Ich bin schuldlos an den Viren
mit denen sich die Erde infiziert.

Ich bin schuldlos an den Lüften
wie schwere Dunstglocken
die fallenden Regenwälder
den Algenmeeren.

Ich bin schuldlos an dem
schwindelnden Ethos der Lieblosigkeit
der sich verlierenden Einigkeit.

Ich bin schuldlos an dem großen
zwischenmenschlichen Schweigen –

sagt der Einzelne,
und doch ist er ein Glied
der unheilvollen Ketten
gleichgültig darin verhangen.

(Betty Fichtl, Anthologie XI, S.304)

Während in Gedichten der deutschen Romantik die fruchtbare und unzerstörbare Natur verherrlicht wird mit Titeln wie „Waldeinsamkeit“ (Tieck) und Novalis in seinem „Weinlied“ den Wein lobpreist, der im Lenz mit Lust empfangen wird, tragen die Gedichte unserer Autoren Titel wie „Vom nuklearen Inferno“, „Haiti 2010 Naturgewalt“, „Fukushima“ und „Verlorene Erde“. Beängstigend, oder? „Der Menschheit eitle Errungenschaft bringt Tod und Verderben“, heißt es in einem der Gedichte sehr treffend. Wie schön wäre es, wenn wir in den kommenden Jahren wieder über die Schönheit von Flora und Fauna dichten würden, statt deren Verlust zu beklagen?

Auf so einer Jubiläumsfeier herrscht zwischendurch ja auch immer mal wieder peinliche Stille und so gibt es auch in den Anthologien der Gedichte-Bibliothek hin und wieder Phasen, in denen es nichts zu thematisieren gibt, außer eben dem „Nichts“:

(...)

Riecht nicht, schmeckt nicht, sieht nicht aus.
Will sie, greift sie, packt sie, quält sie. Aus der Tiefe.
In die Leben. Ohne Gnade. Wahllos blind.

Keine Luft und kein Entkommen. Verzerrte Fratzen überall.
Schreie Stöhnen, dumpfe Laute. Ausweg nirgends.

Nur das Nichts.

Keine Antwort, keine Logik, keine Hoffnung.

Nur das Nichts.

(...)

(André Moch, Antho XIII, S.300)

Wir kommen sprichwörtlich aus dem Nichts in das Jahr 2010 und läuten sogleich ein neues lyrisches Jahrzehnt ein. Die Dichtkunst wird vom WorldWideWeb wiederentdeckt, das Subgenre „Netzlyrik“ oder auch „Internetlyrik“ genannt verbreitet sich. Diese kombiniert Zitate aus Blogs, Chats, Twitter-Tweets sowie eigenen Versen mit Screenshots und anderen Bildern aus dem Netz. Die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte mag es lieber handfest und so präferieren wir weiterhin das klassische Buch als Veröffentlichungsform. Wir schlagen nun nacheinander die Anthologien Numero XIV bis XVII auf – diesen unvergleichlichen Buchgeruch bekommt man im Netz nämlich auch nicht – und schauen uns doch einmal gemeinsam an, was unsere Autoren in den Jahren 2010-2014 beschäftigt. Ganz hoch im poetischen Kurs steht zu dieser Zeit die Auseinandersetzung mit digitalen Wahrheiten bzw. Unwahrheiten, wo wir – es lässt sich eben nicht vermeiden – wieder beim Netz wären. „Big Brother, wir kommen“, „Überwachung“, „Das Netz“ oder „Big Data“ heißen die Gedichte in diesen Jahren – vielen Dank für den Stoff, Snowden! Zweifelsohne brachte dieses mysteriöse, nicht wirklich zu fassende „Netz“ eine neue Globalisierung der Wirtschaft mit sich. Doch wissen wir seit jeher, dass ein Fortschritt in gewissem Maße auch immer einen Rückschritt bedeuten kann. Und in diesem Fall bedeutet die Digitalisierung gleichzeitig eine Zunahme der staatlichen Überwachung und damit eine Einschränkung unserer Freiheit, um es vereinfacht auszudrücken. Unseren Autoren bereitet dieser „Kontrollfetischismus“ große Kopfschmerzen:

BIG DATA

Tiefe Schleier hängen über den Gärten Marylands.
In den ganz Großen Apfel vom Baum der Erkenntnis
Senken maßlos gierig sich die Zähne, verwunschen
Von den Blüten einer neu gezwitscherten Freiheit.

Dicke Datenwolken trauriger Jahre unwirklich
In weiter Ferne schweben. Aus Hongkong, Moskau
Schillert die Apotheose einer spähenden Zunft mit
Den ganz Großen Ohren für das Leben aller andern,
Die im Unschuldshemd des elektronisierten Millenniums
Ihr smartes, wertes Gesicht zu Buche schlagen lassen.

Wortfetzen kreidiggrau im großen Krug der Zeit,
Mit Myriaden dahingestammelter Neuronenblitzen
In glasfaserlegierter Liaison. Geschüttelt und gerührt.
Informationsdepots geheiligt vom ignatischen Zweck
Dossierssüchtelnder viertelseidener Doppelweltler,
Das Große Goldne Vlies digitaler Argonauten am

Revers:
Tränenlose Misstraulichkeiten niederen Horizonts in
Binär codierten Allmachtsphantastereien und wahrhaft
Grenzenlosem polymorph perversem
Kontrollfetischismus.

(Heiner Goldinger, Anthologie XVII, S.274)

Poetologisch orientierten sich die Autoren der Gedichte-Bibliothek in den zuvor genannten Jahren natürlich nicht nur an „Big Data“. Der arabische Frühling wurde zum Thema gemacht, die Krimkrise lyrisch dokumentiert, ganz zu schweigen von der Griechenlandkrise. Natürlich geht es in unseren Sammelbänden auch nicht ausschließlich um Krisen, die hier unter die Kategorie „Gesellschaft“ fallen. Die Autoren der Gedichte-Bibliothek haben selbstverständlich auch die Option, ein Gedicht für eine der anderen Kategorien zu verfassen, wie z.B. „Gegenüber“, „Innenwelt“ oder „Natur“. Und dann gibt es ja auch noch die Rubrik „Sonderthema“, die 2014 erstmals eingeführt wurde und seither großen Anklang findet bei unseren Autoren und Lesern. Die Sonderthemen der Anthologien 2013 bis 2017 sind in chronologischer Reihenfolge: „Reise“, „Liebe“, „Kostbares“ und „Zeit“. Und im nächsten Jahr? Diese Frage bekommen wir jedes Jahr immer früher gestellt, denn unsere Autoren haben Hunger, Hunger auf Lyrik. Nicht nur deshalb bereitet uns die Arbeit an der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte so viel Freude. An dieser Stelle ein Prosit auf Sie, liebe Autorinnen und Autoren und ein herzliches Dankeschön! Sie leisten einen nicht zu unterschätzenden Beitrag an der Aufrechterhaltung eines deutschen Kulturguts, der Dichtkunst. Das Sonderthema 2018 lautet übrigens „Kindheit“. Doch nun zurück zu unserer Zeitreise. Wir befinden uns nun im Wettbewerbsjahr 2015, das überwiegend die zeitgeschichtlichen Geschehnisse vom April 2014 bis April 2015 aufarbeitet. Schaut man einmal in das Archiv großer Zeitungen, so findet man in dieser Zeit folgende Überschriften bzw. Themen in chronologischer Reihenfolge: „Dragqueen gewinnt Eurovision Song Contest“, „Ebola breitet sich weiter aus“, „Deutschland ist Weltmeister“, „Udo Jürgens tot“ – wir halten kurz inne und erheben unseren, wenn auch nicht griechischen, Wein auf ihn, „Einführung des Mindestlohns“, „Anschlag auf Charlie Hebdo“, „70 Jahre Befreiung Auschwitz“ und „Ukraine-Konflikt spitzt sich zu“. Der Anschlag auf Charlie Hebdo gewinnt hierbei den traurigen Preis „Größte Aufmerksamkeit durch die Medien“ und bekommt auch in der Anthologie XVIII einen großen Erinnerungs- und Verarbeitungsraum zugesprochen. „Je suis Charlie, Je suis Ali“ oder „Nous sommes Charlie“ heißen die Gedichte, die den Wahlspruch Frankreichs „Liberté, Égalité, Fraternité“ in Form einer Solidaritätsbekundung versinnbildlichen. Die Liebe soll den Hass überschatten – und so war es einem glücklichen Zufall geschuldet, dass das Sonderthema des Wettbewerbsjahres 2015 „Liebe“ war:

LASST DIE LIEBE BEI EUCH WOHNEN

Lasst die Liebe bei euch wohnen,
denn es wird sich für euch lohnen,
dass die Welt nicht so erkaltet,
Krieg und Elend hier nur waltet.

Lasst die Waffen endlich stecken,
denn sie schüren Angst und Schrecken,
hinterlassen auf den Fluren
tote Erde, Kampfes Spuren.

Lasst die Hände friedlich sinken,
denn zu viele Leiber hinken,
und ihr Trauma kann nicht schwinden,
weil sie keine Worte finden.

Lasst die Worte zu euch sprechen,
harte Herzen aufzubrechen.
Sich für Frieden zu bekriegen,
lässt uns Böses nicht besiegen.

(Mirko Swatoch, Anthologie XVIII, S.901)

Unsere lyrische Zeitreise neigt sich langsam aber sicher ihrem Ende zu, denn wir blicken nun auf die beiden zuletzt erschienenen Anthologien unserer Gedichte-Bibliothek, Ausgewählte Werke XIX und unsere jüngst veröffentlichte Jubiläumsanthologie XX. Wir wollen uns zunächst die Anthologie XIX zum Wettbewerbsjahr 2016 genauer anschauen. Schlägt man hier die Seiten 136 bis bis 210 auf, so begegnet man Rufen nach „Menschlichkeit“, „Gleichheit“, „Humanitärer Freiheit“ und „Frieden“, denn die Flüchtlingskrise erlebt in dieser Zeit ihren traurigen Höhepunkt. Die Autoren der Gedichte-Bibliothek zeigen sich fassungslos über den Terror, den der „Islamische Staat“ über Land und Mensch verbreitet. „Wie kann ein kleines Land wie Deutschland so viele Flüchtlinge beherbergen?“, fragten sich viele Menschen.  Karin Bustert, erste Preisträgerin im Wettbewerbsjahr 2016, führt uns – wie viele andere Autoren der Anthologie – wieder einmal den Spiegel vor und zeigt klare Kante:

WELLEN-GETRIEBEN

 Wäsche sortieren, blau, grün, grau
Rot, hell, dunkel, koch –
Gleichförmig auf und ab dreht die Trommel
Maschinell getrieben, automatisch gespült –
Wie die Pressemeldungen aus den Wellen
Quellen Flüchtlinge aus dem Meer
Sammeln sich im Schmutz der Lager
Weil Europa – rechtsgespült –
Seine Grenzen der Reinheit wahrt
nicht verschleudern will es seinen Überfluss
an Überlebende, gerettet aus den Wellen
Getriebene voller Hoffnung auf Leben –
Menschen sortieren, hell, dunkel, braun, rein, raus
Automatisch kategorisiert, menschlich vertrieben

(Karin Bustert, Anthologie XIX, S.167)

Wir beenden unsere Zeitreise und damit unsere virtuelle Feier mit unserer Jubiläumsanthologie XX, die passend zu unserem Rückblick das Sonderthema „Zeit“ beinhaltet und so zählen wir schon die Tage, bis wir am 01.01.2018 das Wettbewerbsjahr 2018 einläuten können. Auch wenn die Anthologie XX eine apokalyptisch anmutende Zahl trägt, so ist noch lange kein Ende der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte in Sicht. Wir setzen unseren Gedichterausch gemeinsam mit Ihnen, liebe Autoren und Leser, fort und freuen uns auf die nächsten 20 Jahre mit der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte. Auf dass Sie uns auch im Wettbewerbsjahr 2018 mit zahlreichen Gedichten bereichern werden! 

Die Bibliothek deutschsprachiger Gedichte sagt DANKE und freut sich gemeinsam mit Ihnen auf das Wettbewerbsjahr 2018!

Auflösung des "Lyrik-Rätsels": Der Titel des ersten Gedichtes lautet selbstverständlich „DIANA“

 

Bildhinweise: 

Foto: The U.S. Army, flickr, Lizenz CC BY 2.0
Foto: September 11, wikipedia, Lizenz CC BY-SA 3.0
Foto: Operation Triton, flickr, Lizenz CC BY 2.0