Das Bild als Erfahrungsschatz

Ein Beitrag aus der Lehrgangsmappe VIII des staatlich zugelassenen Fernstudiums "Das Lyrische Schreiben" der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.

Unsere erste Welt ist eine Bilderwelt

Nicht selten wird das Leben der Menschheit mit dem Leben eines einzelnen Menschen verglichen und häufig wird dabei die Übertragung des Wortes »Kindheit« der Menschheit oder »als die Menschheit noch in den Kinderschuhen steckte« benutzt. Diese Bildhaftigkeit entspricht in ihrem Wahrheitsgehalt durchaus den Gesetzmäßigkeiten der Evolution.

In der Kindheit, ehe wir der Sprache mächtig sind, leben und empfinden wir ausschließlich in Bildern. Es ist unser Weg in die Welt. Später dann tritt die Abstraktion, die Abwandlung des Bildes in den Begriff an die Stelle der rein sinnlichen Wahrnehmung. Die Wahrnehmung an sich tritt sogar in den Hintergrund, denn das Wissen um die Dinge löst die Tätigkeit unserer Sinnesorgane bis zu einem gewissen Grad ab. Wir können in einem fensterlosen Raum sitzend die Welt beschreiben, denn wir wissen, dass zu einer bestimmten Tageszeit die Sonne am Himmel steht, dass zu einer bestimmten Jahreszeit das Laub von den Bäumen fällt, dass an einem bestimmten Ort ein Berg steht. Wir besitzen die Fähigkeit, von den wirklichen Bildern abzugehen und eine Welt in unserem Innern zu schaffen, die mit der äußeren in hohem Grade übereinstimmt.

Wir büßen die Fähigkeit, uns an Bildern zu entzünden, nie ein

Eines ist aber ungebrochen geblieben, egal in welchem Lebensalter wir uns befinden, nämlich die Fähigkeit unserer Sinne, sich an Bildern zu erregen. Jeder Dichter hält in bestimmten Phasen seines Schaffens Rückschau und arbeitet mit den Bildern, die sich in seinem Gedächtnis niedergelegt haben. Einige antike Philosophen haben sogar geglaubt, dass sich die Bilder der Erfahrung in Schichten auf der Seele des Menschen ablagern. Dieses wunderbare Bild ist, wenn man es als Bild und nicht als Erkenntnis der Hirnforschung oder der erkenntnis-theoretischen Philosophie betrachtet, durchaus richtig. Es gibt uns zumindest eine bildhafte Vorstellung von den Dingen, ohne jedoch auf einen Modellcharakter Anspruch zu erheben.

Folglich ist unsere Erfahrung ein Speicher von Bildern, der im Kontext einer bestimmten künstlerischen Tätigkeit Bilder aus der Vergangenheit wieder freigibt. Dies geschieht dann nicht selten in der Form, wie es der Komponist Paul Hindemith beschrieb, schlaglichtartig. Die Bilder unserer Erfahrung ruhen in uns – betrachten Sie die Bildhaftigkeit dieser Aussage – was bedeutet, dass sie inaktiv sind, schlafend quasi. Wir sprechen dabei von unserem Unterbewusstsein und meinen, dass diese Bilder nicht im aktiven Teil unserer Geistestätigkeit präsent sind.

Das Bild zielt direkt auf die Gefühlswelt des Lesers

Bleibt zu klären, welche Bilder wir speichern, in uns weitertragen, des Aufhebens für wert befinden. Die Antwort ist einfach. In unserem Gedächtnis bleiben nur Bilder und Begebenheit deutlich haften, die eine starke Gefühlsbewegung in uns auslösen. Das kann ein Segen, aber auch ein Fluch sein, denn sowohl Momente des Glücks wie auch Momente des Leids verbleiben in uns. Ein Blick in die Literatur-geschichte macht deutlich, dass sich mit bedeutender Literatur Bilder verknüpfen, die überwiegend negativen Ursprungs sind und die nicht selten sogar als Wunden auf den Seelen der Dichter begriffen werden können.

Im Gewitter der Rosen

Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen,
ist die Nacht von Dornen erhellt, und der Donner
des Laubs, das so leise war in den Büschen,
folgt uns jetzt auf den Fuß.

Ingeborg Bachmann

In diesem Gedicht haben wir es eigentlich mit einer Blume zu tun, die häufig verehrungswürdig erscheint. Gleichsam steht die Rose aber auch für die Schönheit, die, wegen ihrer Dornen, verletzend sein kann. Im Gedicht Ingeborg Bachmanns allerdings wird die Rose zu einer existenziellen Bedrohung, etwas, was in der Natur kaum möglich ist, außer man lässt sich auf das Bild von der märchenhaften Rosenhecke vor Dornröschens Schloss ein. Dieses Bild wird umso bedrohlicher, da es mit einem Gewitter, einer entfesselten Natur gekoppelt wird, denn es heißt im Gedicht nicht »Rosen im Gewitter«, sondern »im Gewitter der Rosen«. Dieses Bild ist kein wirkliches Naturbild, sondern eine Verzerrung der Natur, das dazu dient, eine starke seelische Beschädigung zu beschreiben, von der wir nicht unbedingt etwas wissen müssen, denn es ist die Privatsphäre der Dichterin. Sie selbst tritt hinter diesem emotional aufgeladenen, »beeindruckenden « – also Druck auf die Emotionalität erzeugenden – Bild zurück. Als ein Beispiel für die Macht der Schönheit soll ein Gedicht von Christoph Wilhelm Aigner (*1954) zitiert werden.

Jahreszeit

Wer hat das Laub
So angezündet

Und in den Teich
zum Löschen gelegt

Blatt für Blatt
Aus Feuer und Wasser

Der Kunst der Dichter
Den Teppich gewirkt

Christoph Wilhelm Aigner

Ein scheinbar belangloser Vorgang wie ein Sonnenuntergang gerinnt in einem ganz besonderen Augenblick und unter einer ganz bestimmten Konstellation zu einem seelenerschütternden Bild, welches dem Dichter hier nebenher auch dazu dient, sich selbst zu beschreiben oder sogar zu definieren. Das Bild hat »der Kunst der Dichter den Teppich gewirkt«. Aus den bisherigen Ausführungen ist nun leicht abzuleiten, warum wir in der Dichtung stets darauf aus sind, uns in eindrucksvollen Bildern zu artikulieren. Es ist die Wirkung, die diese Bilder erzeugen, die sie uns so wertvoll macht. Der Dichter möchte sich ebenso mit seinem Werk im Gedächtnis des Lesers verewigen und da ist es nur nahe liegend, dieselben Mittel zu benutzen, mit denen das Leben sich im Betrachter verewigt. Das eindrucksvolle Bild ist der Schlüssel zur Seele oder zum Herzen des Menschen. Mit einem Bild vermag der Dichter genau das Gefühl im Betrachter hervorzurufen, das er selbst vermitteln möchte.

Übungsaufgabe:

Schreiben Sie ein Gedicht zum Thema Sonnenuntergang oder suchen Sie in Ihren eigenen Texten nach genanntem Thema und analysieren Sie Ihren Text in Bezug auf die von Ihnen verwendeten Bilder, die Sie dazu entwickelt haben.