Weihnachts-Haiku verfassen

Ein Beitrag aus der Lehrgangsmappe II des staatlich zugelassenen Fernstudiums "Das Lyrische Schreiben" der Bibliothek deutschsprachiger Gedichte.

Ein Haiku ist nicht etwa ein japanisches Gericht oder eine neue Kampfsportart, sondern vielmehr eine traditionelle japanische Gedichtform. Um genau zu sein, handelt es sich hierbei um das kürzeste Gedicht der Welt (siehe auch: Lyrik Magazin). Da sich der Dreizeiler klassisch auf die vier Jahreszeiten bezieht, macht sich das Haiku auch sehr gut auf winterlichen Weihnachtskarten. In unserer Schreibwerkstatt erfahren Sie, wie man ein Haiku verfasst. 

Das Verfassen eines Haiku ist in Japan äußerst populär. Durch alle Bevölkerungsschichten hindurch dichten die Japaner seit Jahrhunderten in dieser alten Form, die aus 17 Silben, im Verhältnis fünf / sieben / fünf auf drei Zeilen verteilt, besteht. In etwa 50 speziellen Zeitschriften werden pro Monat an die 80000 Haikus veröffentlicht: Ein überzeugender Beweis für die Beliebtheit dieses Gedichts, das auch in unseren europäischen Dichterwerkstätten immer gefragter ist.

Im Morgenrot dort
So klar im Tau die Blüten
Der wilden Kirsche!

Arô

In frühen Zeiten waren die Dreizeiler die Anfangsstrophen eines Kurzgedichts, auf die ein zweiter Dichter mit zwei Versen antwortete. In geselliger Runde reihte man sogar die beiden Strophen abwechselnd zu langen »Scherzkettengedichten« aneinander. Im 13. Jahrhundert löste sich der Dreizeiler und wurde eine eigenständige Form. Man war dazu übergegangen, in den 17 Silben einen »Lebensaugenblick« einzufangen.

Gab es auch eine Haiku-Zeit, während der das Sprachspiel und der Witz vorrangig waren, so geht die uns heute bekannte meditative Form des Gedichtes auf den Wandermönch Matsuo Bashô (1644–1694) zurück, der sich nach seinen Zen-Studien der Erneuerung des Haiku widmete. Bashô gründete eine eigene Dichterschule und strebte nach Einfachheit und Klarheit der Sprache. Um die gewünschte Harmonie zu erreichen, wählte er seine Worte aus einer einheitlichen Sphäre und unterstrich so die Ganzheit des gestalteten Bildes. Beim folgenden Beispiel des Herbstes verstärken die Krähe und das kahle Astwerk die abnehmende Jahreszeit. Mit dem Abend kommt das Ende im zeitlichen Bezug, mit dem Landen des Vogels, seinem Rasten oder Einhalten die räumliche Bewegung nach unten hinzu. Überprüfen Sie selbst die Übereinstimmung in Bashôs Dreizeiler aus dem Jahr 1679, der für die gesamte spätere Haiku-Dichtung grundlegend wird.

Auf kahles Astwerk
Hat sich die Krähe gesetzt:
Des Herbstes Abend.

Matsuo Bashô

Haikus leben von der Leere und der Abwesenheit. Kein lyrisches Ich und keine Innerlichkeit stören die objektive Wirklichkeit, die der Dreizeiler zeigt. Selten tritt ein Mensch auf, noch seltener ein Ich. Dafür ist es Grundregel, ein Ding zu nennen, und in klassischen Phasen musste damit der Bezug zur Natur und ihren Erscheinungen sowie zur Jahreszeit hergestellt sein: Die Kirschblüte rief das Frühjahr auf, im frisch bepflanzten Reisfeld war der Sommer ausgedrückt.

Der Haiku-Dichter schreibt, wie es der japanischen Philosophie und dem Zen entspricht, im »Hier und Jetzt«. Ein Haiku kennt daher keine Vergangenheit oder Zukunft, es wählt immer ein einmaliges Ereignis im Augenblick, auch wenn es – vor allem dem europäischen Leser – beim Durchblättern einer Haiku-Sammlung angesichts der Ähnlichkeit des Geschriebenen um ewig gültige Wahrheiten zu gehen scheint.

Ein Haiku ist titellos, es drückt weder einen Gedanken noch eine Botschaft aus. Wer denkt spätestens an dieser Stelle nicht an unsere Ausführungen zum leeren Raum und an die Worte von Gottfried Benn! Die Dinge im Haiku ruhen in sich. Auch extrem Gegensätzliches ist geeint. Den »Dingen im Bazar« vergleichbar, stehen sie miteinander im Austausch, ohne dass ein Ich ihnen seinen Willen oder Sinn aufzwingt.

Haikus lassen sich gut regelmäßig schreiben – als eine Art Tagebuch oder auf Reisen, um die Erlebnisse in Form der Dreizeiler zu bewahren. Ein »europäisches« Haiku sei Ihnen daher noch am Ende der Kursmappe zum Anreiz mitgegeben:

Die Autoschlangen
ringeln sich vom Gebirge
in die Stadt zurück.

Else Müller

Zusammenfassung 

Die Herausforderung Ihres lyrischen Schreibens liegt nicht in der Auswahl, sondern in der sprachlichen Umsetzung eines Themas. Was auch immer Sie ins Zentrum Ihres Interesses stellen, wird durch das »Wie«, durch seine sprachliche Gestaltung zum Gedicht. Die Fähigkeit, durch Ihre eigene Wahrnehmung und Erfahrung der Aussage Individualität und Authentizität zu verleihen, paart sich mit dem handwerklichen Vermögen, »sprachliche Register« zu ziehen. Im Haiku, das klassisch auf die vier Jahreszeiten und das Neujahr festgelegt ist, benötigen Sie diese lyrische Ausdruckskraft um so mehr, um beim gleich bleibenden Thema immer wieder »Neuland« zu betreten.

Und nun viel Freude beim Verfassen eines eigenen Haiku!